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Studienzeit, Teil II (1973-1979)

Im Frühjahr 1973 fühlte ich mich einsam: die Korrespondenz mit Teresita war eingeschlafen, mit Marijana hatte ich mich überworfen, Mary war in die USA zurückgekehrt, Ksaverija weit weg und Irmgard, die Kindergärtnerin aus Heilbronn, die ich im Zug nach Jugoslavien kennengelernt und nur noch einmal im Januar 1972 wiedergesehen hatte, wollte heiraten, aber nicht mich. Ich war also solo, und ebenso ging es Friedl, einer Schulkameradin meines guten Freundes Klaus-Peter. Er vermittelte unsere Bekanntschaft, wobei Friedl mir gleich beim ersten Treffen sagte, dass erotisch nichts drin sei. Das war auch nicht mein Ziel, aber wir passten wunderbar zusammen, um gemeinsam Urlaub in Frankreich zu machen. Sie war Kunstlehrerin und wollte sich auf einen Kurs über französische Architektur (Romantik und Gotik) kundig machen, besaß zudem ein Auto; ich konnte Französisch, nicht gut, aber ausreichend. So ergänzten wir uns wunderbar und brachen gemeinsam an die Loire auf. 

Friedl, die mich als ziemlich nervend erlebte (noch nicht richtig freigeschwommen, zu konservativ) überraschte mich immer wieder. Schon in Deutschland auf der Autobahn bat sie mich, für sie das Steuer zu halten (ich habe keine Ahnung vom Autofahren und natürlich auch keinen Führerschein), während sie die Flasche Rotwein an den Mund führte. So sollte sie mich noch des Öfteren schockieren. Unsere ersten Ziele waren nach in Deutschland Rüdesheim, Worms, Heidelberg, Mannheim und Speyer, bevor wir in Troyes die eigentliche Frankreichtour begannen. Quartier nahmen wir regelmäßig in Jugendherbergen, die sich von den deutschen dadurch unterschieden, dass sie schlichter waren und es keine organisierten Mahlzeiten gab. Sie boten lediglich ein Bett und die Benutzung der Küche, wo jeder sich sein Essen selbst zubereiten konnte. Das taten auch wir, und ich lernte, dass man Bratkartoffeln auch aus rohen Kartoffeln machen konnte (kannte ich nur aus gekochten). Ansonsten ernährten wir uns meist landesüblich von Baguette, Rotwein und Käse.

Bei der Besichtigung der Kirchen und Schlösser nervte ich meine Begleiterin, weil ich sie quasi als Reiseführerin ansah und kunsthistorische Erklärungen erwartete, die ich nie bekam: ich solle die Gebäude einfach auf mich wirken lassen! Eine wichtige Lektion: nicht Schubladendenken, sondern Leben aus dem unmittelbarem Erleben. Wir besuchten reihenweise Schlösser und Kirchen an Loire, kamen aber auch in bedeutende Städte wie Bourges, Tours und Reims. Auf der Rückfahrt sammelten wir auch noch einen Anhalter auf, der sich als Israeli auf Europatour entpuppte. Er las eifrig in einem Buch, der Bibel. Er erklärte uns dann, dass es keine bessere Reiselektüre gebe, leicht zu tragen und eine komplette Bibliothek, die Kriminalgeschichten wie Liebeslyrik und Chroniken umfasste. Er hatte recht: das deutsche Wort Bibel lässt an éin Buch denken, aber βιβλία ist natürlich Plural und durchaus richtig als Bibliothek zu übersetzen. Die Rückfahrt ging über Luxemburg, wo wir noch einen netten Abend in einer Kneipe verbrachten, bis Friedl merkte, dass es einen Tag später war als sie glaubte. Daraufhin kam es zu einem überstürzten Aufbruch, und wir erreichten noch spät in der Nacht Bonn.

Für den Sommer hatte ich die Einladung zu einem Sprachkurs nach Sofia erhalten. Noch einmal wollten meine Eltern mich bis dorthin mit dem Auto bringen, wobei ich ihnen unterwegs zeigen konnte, was ich inzwischen von Jugoslavien kannte. Dieses Mal wählten wir eine Strecke durch das Inland, die auch mir neu war, und kamen so nach Maribor und Banja Luka, später nach Jajce und Sarajevo, Višegrad und zu den serbischen Klöstern Studenica und Sopoćani. Über Novi Pazar ging es dann nach Skopje und weiter über Tetovo nach Ohrid, das ich meinen Eltern zeigen wollte. Über Bitola und Strumica fuhren wir anschließend nach Melnik in Bulgarien und dann nach einem Besuch im Rila-Kloster nordwärts nach Sofia, wo meine Eltern mich wieder irgendwo an der Straße zurückließen und schnurstracks nach Österreich zurückkehrten.

Der Sprachkurs unterschied sich nicht wesentlich von anderen, die ich kennengelernt hatte, die Rundreise durch das Land bot mir ebenfalls kaum Neues, da ich Bulgarien schon relativ gut kannte (nur der Ausflug ins Vitoša-Gebirge, nach Pleven und nach Drjanovo waren mir neu). Auf dem Kurs machte ich die Bekanntschaft von Gerlinde, einer Studentin aus Wien, die sich eigentlich für das Bulgarische überhaupt nicht interessierte, sondern den Kurs durch ihren Vater, der Russischlehrer war, vermittelt bekommen hatte. Auch sie interessierte sich nur für das Russische. Dennoch freundeten wir uns an, und sie blieb am Ende nach dem Kurs noch zurück, und ich nutzte die Gelegenheit, ihr bei einem Picknick im Паpкът на свободата die Liebe zu Bulgarien zu vermitteln. Es entstand zumindest eine Freundschaft, die viele Jahre hielt. Auf der Rückfahrt machte ich noch einen Abstecher nach Skopje und vor allem nach Belgrad, das ich ja kaum kannte, und fand Gefallen am Kalemegdan. 

Im Herbst fuhr ich noch einmal nach Wien, einerseits, um Gerlinde zu besuchen, vor allem aber wegen des Esperanto-Museums in der Wiener Hofburg, wo ich mich für ein Seminar über Esperanto-Literatur vorbereitete, das ich im Wintersemester halten wollte. 

Zum Wintersemester 1973/74 nahm ich das Studium des Arabischen auf. Im Kurs gab es auch zwei Mädchen, die mich interessierten: die hübschere Beate war fest liiert mit einem Sizilianer, die eher burschikose Ulrike wurde mir eine gute Freundin. Bald planten wir eine gemeinsame Reise zu dritt in den Orient. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass es möglich war, arabische Länder und Israel zu besuchen, wenn man einen zweiten Pass besaß. Wir planten daher, nach Syrien und in den Libanon zu reisen, dann nach Zypern, anschließend mit dem zweiten Pass nach Israel und von dort zurück. Ich hatte auch schon die diversen Botschaften aufgesucht, wobei mich das Verhalten der Angestellten in der israelischen Botschaft zu Bonn wegen ihrer Arroganz abstieß. Bevor es aber dazu kam, die Reise konkreter ins Auge zu fassen, brach in Zypern der Bürgerkrieg aus, so dass die Verbindung eines Besuchs arabischer Länder und Israels auf einer Reise nicht mehr möglich war. Dann sprang auch noch Beate ab, der ihr sizilianischer Freund die Teilnahme untersagte, woraufhin auch Ulrike zu zweit nur mit mir auch nicht reisen wollte. Ich brach also schließlich im Sommer 1974 allein auf, hatte Visa für Syrien und den Libanon. Zunächst aber ging es wieder nach Ohrid, wohin ich wieder die Einladung zum Sommerkurs erhalten hatte.

Dieses Mal wollte ich eigentlich in Niš aussteigen, versäumte aber den Halt und fuhr durch bis zum serbischen Dimitrovgrad, einem Kaff am Ende der Welt, bei dem die Kapelle im Hotel so laut war, dass die ganze Stadt unterhalten werden konnte. Über Niš, das ich am nächsten Tag natürlich auch besichtigte, erreichte ich dann Skopje, es folgte der übliche Sommerkurs in Ohrid. Dort lernte ich unter anderem Dubravka aus Novi Sad kennen, mit der ich auch eine Weile korrespondierte. Ein schönes Erlebnis war auch der Seminarausflug nach Peštani am Ohrider See, der zum Standardprogramm gehörte, aber dieses Mal trafen wir zufällig auf eine Hochzeit, in die das ganze Dorf involviert war: alles tanzte auf der einzigen Straße, die durch den Ort führte.

Nach dem Ende des Kurses fuhr ich wieder nach Sofia und besuchte dort meine Freundin Mariana, dann ging es weiter nach İstanbul. Ich träumte davon, mit dem Orientexpress zu fahren, nahm aber doch zuerst den Bus nach Bursa, dann Konya. Dort erfuhr ich am Bahnhof auf mein Nachfragen, dass der Orientexpress schon abgefahren sei, ich könne ihn aber zwei Tage später in Tarsus noch erreichen, wenn ich mit dem Bus hinterherführe. Das tat ich, wobei ich sagen muss, dass Tarsus auf mich keinen positiven Eindruck machte, hier versuchte man sogar, mich zu betrügen, was mir sonst in der Türkei nie passiert ist (im Gegenteil, in İstanbul ist mir einmal ein Verkäufer durch den ganzen Park nachgelaufen, weil er mir zu wenig Wechselgeld herausgegeben hatte). Schließlich kam der Zug mit einigen Stunden Verspätung. Da ich noch Geld für die Fahrkarte hatte tauschen müssen, reichte die Zeit nicht mehr, um zu frühstücken, ich tröstete mich aber damit, dass ich am Abend in Aleppo, wo wir gegen 20 Uhr eintreffen sollten, gut würde zu Abend essen können.

Die Zugfahrt war wirklich ein Erlebnis. Im Abteil waren außer mir eine türkische Familie mit zwei Kindern, wobei das Mädchen im Alter von sechs bis acht Jahren einen schokoladenbeschmierten Mund hatte. Außerdem gab es einen Schwarzen. Das Gespräch entspann sich zunächst auf Türkisch zwischen den Türken und mir, die üblichen Fragen (verheiratet? warum nicht? willst Du meine Tochter haben?). Ich verwies darauf, dass diese Tochter doch noch ein Kind sei, worauf er meinte, das mache nichts, er habe zuhause noch ein paar. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen und gab vor, ihn nicht zu verstehen, woraufhin er seine Tochter dem Schwarzen anbot, der aber auch nicht verstand oder nicht verstehen wollte.

Mittlerweile kam der Zug ins Taurusgebirge und wurde immer langsamer, dann rollte er zurück, nahm neuen Anlauf, rollte wieder zurück. Schließlich stiegen die Maschinisten mit Eimern in der Hand aus und wollten nach Wasser suchen. Wir nutzten die Zeit, Obst zu pflücken (bis dahin hatte ich nur einen Apfel gegessen, den der Schwarze mir geschenkt hatte). Schließlich kamen die Maschinisten zurück. Der Zug rollte langsam zurück ins Tal, dann mit neuem Schwung aufwärts, doch gab es bald einen neuen Halt. Vor uns war ein Zug entgleist und lag auf der Seite. Die Türken steckten neugierig die Köpfe in den Fenstern hinaus, nur eine Frage: „Wieviel Tote?“ Es waren nur zwei, was anscheinend enttäuschte. Dann rollte der Zug weiter. Spät in der Nacht kamen wir an die syrische Grenze, viele Stunden verspätet. Die Grenze war um diese Zeit geschlossen, wir mussten bis zum Morgen warten. Am Morgen gab es dann die üblichen Kontrollen, und wir durften Fahrkarten für die Weiterfahrt auf syrischem Gebiet nachlösen (für etwa 0,30 DM). Gegen Mittag, also rund 16 Stunden später als nach Fahrplan, erreichten wir Aleppo, mein Ziel.

In Aleppo war ich zunächst außer Gefecht, wahrscheinlich, weil ich in Tarsus noch Eis gegessen hatte. Die Syrer aber kannten ein probates Mittel gegen Durchfall, dass auch mir sehr geholfen hat: tamar hǝndī. Ich trank den ganzen Tag Tamarindensaft, manchmal auch Lakritzensaft, beides tat mir gut, so dass ich am dritten Tag endlich anfangen konnte, die Stadt zu erkunden, die mir ausnehmend gut gefiel. Interessant war ein Erlebnis mit ein paar Syrern, die mich mitten in der Stadt ansprachen, weil sie etwas weiter ein paar Deutsche gesichtet hatten. Ich sollte zu ihnen gehen und sie fragen, ob ich ihnen helfen könne! Ich fand das überflüssig, aber sie drängten mich solange, bis ich ihnen zu Willen war. Erwartungsgemäß brauchten die deutschen Touristen keine Hilfe, aber die arabische Mentalität ist da eben anders.

Ich fand auch ein nettes arabisches Restaurant, in dem es nur eine arabische Speisekarte gab. Nach mehreren Tagen der Krankheit war ich richtig hungrig. Ich fand auf der Karte كبه und erkannte die Wurzel, es musste sich wohl um das handeln, was ich aus Jugoslavien als ćevapčići kannte und aus Bulgarien als кебапчета. Diese unterschieden sich freilich deutlich in der Größe: während man von den bulgarischen üblicherweise zwei aß, nahm man von den jugoslavischen meist ein Dutzend. Da ich hungrig war, wagte ich es, drei zu bestellen, nachbestellen konnte ich ja immer noch. Was dann kam, waren freilich drei Teller voll mit Hackfleisch, und der Kellner fragte, wo denn die übrigen zwei Personen seien. In Syrien war das eine Vorspeise, allerdings eine mächtige, und mehr als zwei Teller schaffte ich trotz meines Hungers nicht. Ich blieb übrigens Stammgast dieses Restaurants und probierte jeden Tag Neues. Als ich am Ende sagte, dass ich nun weiterreisen wollte, schenkte man mir noch einmal eine Extraportion  كبه . Aber auch viele andere Köstlichkeiten lernte ich hier kennen wie mit Hackfleisch und Rosinen gefüllte Zucchini mit Joghurt und Sesam oder Kichererbsenbrei (Ḥummuṣ). Das war alles viel besser als mein erster Eindruck in Aleppo, als mich das von Fliegen besetzte Hammelfleisch auf der Straße und die staubige Minze dazu eher gestört hatten.

Mein nächstes Ziel war die zauberhafte Stadt Ḥamā mit ihren Wasserrädern, die mir riesig gefallen hat. Auch ein merkwürdiges Erlebnis mit Essen hatte ich hier. Während ich in Aleppo durchaus auch mal ein Bier zum Essen bekam, ging das in Ḥamā nicht. Dafür hätte ich ja Verständnis gehabt, merkwürdig fand ich aber, dass man mir dann als Getränk zum Essen Whisky anbieten wollte, sicher nicht im Sinne Muḥammads. Da zog ich dann aber wirklich Wasser vor.

Nach dem malerischen Ḥamā enttäuschte mich hingegen das antike Emesa (Ḥǝmṣ), was auch daran liegen mag, dass mein Hotelzimmer vor Staub starrende Gardinen aufwies und Wanzen im Bett.

Letzte Station meiner Syrienreise war Damaskus, das auf mich wieder großen Reiz ausübte: nicht so schön wie Ḥamā oder Ḥalab, aber voll interessanter historischer Bauwerke und frühchristlicher Sagen. Viel verkehrte ich in einem Touristenbüro, wo mich eine Gruppe junger Araber unterhielt. Sie wollten mich auch dazu bringen, des Nachts einen ḥammām zu besuchen (ich weiß heute, dass ich die Einladung wohl ruhig hätte annehmen können), aber ich hatte Bedenken, nachdem sie mir von ihren sexuellen Angewohnheiten erzählt hatten: winters befriedigten sie sich mit Ziegen, im Sommer mit ausländischen Touristinnen. Ich weiß ja nicht, in welche Kategorie sie mich da einordneten.

Inzwischen war die Zeit fortgeschritten, sie reichte nicht mehr, um den selben Weg zurück zu nehmen und rechtzeitig in Wien einzutreffen, wo ich mit meinen Eltern verabredet war. So nahm ich erstmals in meinem Leben ein Flugzeug, nicht nach Wien, sondern nach Sofia, weil ich dort in der Jugendherberge noch eine riesige Tasche mit Büchern deponiert hatte, die ich auf dem Rückweg abholen wollte. Der Flug von Damakus nach Sofia erfolgte bei herrlichem Wetter, ich sah genau die lange Halbinsel Zyperns. Andererseits verwirrte mich, dass es die ganze Zeit über auf mich tropfte. Es war wohl Kondenswasser, das von der Tür, an der ich saß, auf mich fiel, aber ich hatte den Eindruck, es regne auf mich.

In Sofia eilte ich zur Jugendherberge, holte Tasche mit meinen Büchern und erwischte noch einen Zug nach Wien. Es ging so schnell, dass ich weniger als 24 Stunden in Bulgarien war, und dafür war eigentlich ein Visum erforderlich. Nur Aufenthalte über 24 Stunden warten visafrei, aber die Grenzbeamten waren kulant, so dass ich problemlos Wien erreichte. Hier besuchte ich meine Freundin Gerlinde, bei der ich mit meinen Eltern verabredet war. Zusammen mit ihnen ging es dann zurück nach Hause, wobei sie noch Emeka, einen afrikanischen Freund meiner Schwester bei sich hatten, mit dem zusammen wir auf dem Wege noch Würzburg besuchten.